ESC-SPECIAL: Jon Ola Sand im Interview beim Eurosonic in Groningen

Jon Ola Sand wird in Rotterdam seinen zehnten und letzten Eurovision Song Contest leiten. Auf dem Eurosonic-Festival in Groningen gab der Norweger Einblicke in seine Arbeit.

Jon Ola Sand, Eurosonic Noorderslag 2020

Bei einem öffentlichen Interview im Rahmen des Festivals nahm der Supervisor des Eurovision Song Contest unter anderem zu kulturellen Unterschieden der Teilnehmerländer, dem Auftritt von Madonna in Tel Aviv und einer möglichen Teilnahme der USA beim ESC Stellung. Hier sind seine wichtigsten Aussagen.

 

Über Veränderungen beim ESC:

„Der Eurovision Song Contest hat sich von Beginn an immer verändert. Er hat sich entwickelt und er ist gereist. Jedes Land setzt etwas Neues obendrauf. Ich war 1998 erstmals in den ESC involviert, da gab es noch das Orchester – zum letzten Mal. Das ist eine der größten Veränderungen beim Eurovision Song Contest.“

Über Freiheiten für den Austragungsort:

„Es gibt in jedem Jahr einen speziellen Vertrag mit dem austragenden Sender, der reguliert, was er tun darf und was nicht. Das meiste davon rund um den Wettbewerb. Wir geben dem Gastgeber aber viele Freiheiten, der Show seinen Stempel aufzudrücken. Das ist das Gute am ESC. Es ist nicht so strikt formatiert wie The Voice oder Idol. Sie haben die Möglichkeit, Europa zu zeigen, wer sie sind und wie sie gesehen werden möchten.“

Über Unterschiede bei den Gastgebern:

„Mein zweiter ESC fand ich Aserbaidschan statt. Und ich muss zugeben, dass ich wenig über das Land wusste. Ich habe dort viele tolle Menschen getroffen und sie haben eine tolle Show in Baku auf die Beine gestellt. Ich habe aber mehrere Wochen gebraucht, um zu verstehen, dass die Frage ‚Willst du eine Tasse Tee mit mir trinken?‘ dort bedeutet, dass es ein dringendes Meeting geben soll. Und das habe ich manchmal dankend abgelehnt. Aber sie trauen sich auch nicht, zu sagen, dass es ein dringendes Meeting geben soll, wie man das in Schweden, den Niederlanden oder anderen Ländern eben machen würde. In Israel werden die Leute in Meetings dagegen auch mal wütend und laut, sie stürmen raus und schlagen die Tür hinter sich zu. Und danach sind sie wieder richtig nett. Skandinavier sind da kühler und reservierter. Das ist ein großer Teil meines Jobs – einfach ein Diplomat zu sein.“

Über Madonna beim ESC 2019 in Tel Aviv:

„Wir sagen immer: Der Eurovision Song Contest braucht keine Künstler wie Madonna. Der ESC ist stark genug, um auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Aber der Sender und vor allem sein CEO hatten eine starke Verbindung zu Madonna. Es war ihnen also wichtig, Madonna nach Israel zu holen. Und dann haben wir gesagt: Wenn es so wichtig für euch ist, dann könnt ihr das machen. Aber ich würde es nicht empfehlen. Es ist schwer genug, über 40 Acts auf dieser Bühne zu haben. Da noch einen Act wie Madonna reinzuquetschen ist sehr kompliziert. Aber es ist so passiert. Wir hatten das Gleiche mit Justin Timberlake 2016 in Stockholm, das war sehr erfolgreich. Aber nochmal: Man braucht diese Art von Superstar nicht beim ESC.“

Über die verschiedenen nationalen Vorentscheide:

„Wir haben die Sender dazu ermutigt, Künstler zu nominieren, die das Publikum zumindest mit ausgesucht hat. Denn man repräsentiert ja nicht nur den Sender, sondern trägt die Flagge seines Landes auf der Brust. Einige machen es aber intern, setzen sich mit der Musikindustrie zusammen und finden einen guten Künstler und einen guten Song, den sie zum ESC schicken. Es ist also nicht zwingend das Beste, einen nationalen Vorentscheid zu machen. Wir müssen es den verschiedenen Märkten überlassen.“

Über die ESC-Gewinner der letzten Jahre:

„Wenn man sich die Sieger der vergangenen zehn Jahre anschaut, stellt man fest, dass sie alle sehr unterschiedlich sind. Man kann nicht sagen: ‚Das funktioniert, das funktioniert nicht.‘ Es muss aufrichtig sein, es muss eine Message haben. Du musst daran glauben und du musst einen Moment auf dieser Bühne kreieren können. Duncan hat das getan, Netta hat das auch getan – und jeder in Europa hat ‚Wow!‘ gesagt.“

Über die Teilnahme von Australien am Eurovision Song Contest:

„Australien hat eine lange Tradition mit dem Eurovision Song Contest. Sie haben den ESC über 35 Jahre lang verfolgt, sie haben jahrelang Kommentatoren geschickt. Sie fühlen sich sehr verbunden mit Europa. Der Enthusiasmus, den sie jahrelang gezeigt haben, hat sich ausgezahlt. Beim Eurovision geht es nicht um Europa, Eurovision ist ein Markenzeichen der EBU, der European Broadcasting Union. Und wir arbeiten innerhalb des Gebiets der EBU, was theoretisch bedeutet, dass auch Staaten wie Ägypten und Algerien teilnehmen könnten. Genauso Marokko, die das ja schon ein Mal getan haben. Es war natürlich trotzdem eine schwierige Entscheidung, Australien aufzunehmen. Wir wollten nicht einfach die Tür für jeden öffnen. Der Grund war, dass sie einfach eine große Zuschauerzahl hatten.“

Über eine mögliche Teilnahme der USA am ESC:

„Es ist dort einige Jahre übertragen worden, aber nicht live. Wir haben noch nicht angedacht, sie an Bord zu holen. Obwohl wir dort Fans haben und es jetzt einen Deal mit Netflix gibt. Aber an dem Tag, an dem die USA eine große Zuschauerzahl hat, die den Eurovision Song Contest verfolgt, und sie ihre Kommentatoren schicken, dann denken wir vielleicht darüber nach. Aber warum sollten wir jemanden einladen, der keine Unterstützung aus der Heimat hat?“

Über das aktuelle Voting-System:

„2009 wurde entschieden, die Jurys wieder einzuführen, um eine Balance zu haben zwischen den normalen und den professionellen Zuschauern. Wenn du den ESC gewinnst, hast du den Support von beiden. Aber man sieht, dass sie manchmal sehr unterschiedlich abstimmen. Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Qualität sehr gestiegen ist, seit wir die Jurys haben. Und ich glaube auch, dass die Künstler verstanden haben, dass sie nicht einfach rausgehen und zu einem Witz werden können, weil sie hoffen, dass die Menschen vor dem TV sie lustig finden und für sie abstimmen. Es gab zwischenzeitlich Dustin den Truthahn oder Puppen auf der Bühne. Jetzt wissen sie, dass professionelle Jurys sie im Auge haben. Sie müssen also hohe Qualität abliefern.“

 

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Foto: Jorn Baars