„In ein Rockkonzert gehören Songs über die Freuden des Saufens und wie man seine Traumfrau aufreißt. Alles andere ist ein verdammtes Missverständnis“, sagte Noel Gallagher einst in einem Interview mit der „Zeit“. Singer/Songwriter Jim Kroft sieht das ganz anders: Er war in Lesbos und Idomeni und hat ein beeindruckendes Album über seine Erlebnisse mit den Flüchtlingen geschrieben. Klar, dass dieser Mann viel zu erzählen hat. Wir haben ihn getroffen.
Zum vereinbarten Interviewtermin kommt Jim Kroft jedoch zunächst gar nicht. Vor lauter Arbeit hat er das lange ausgemachte Treffen schlicht vergessen. Dann kommt er mit seinem Fahrrad angesaust, durch den peitschenden Wind, den ein Ausläufer des Orkans „Thomas“ an diesem kalten Februartag durch Berlin wehen lässt.
Als Jim Kroft das Café dots in Neukölln betritt und sich hektisch entschuldigt, zieht er sofort mehrere Karteikarten aus der Tasche. Darauf stehen verschiedene Präpositionen aus seinem Deutschunterricht. „Ich bin der Musterschüler“, sagt er und bestellt sogleich seinen Kaffee und einen Schokokuchen in fast perfektem Deutsch. Über seine Projekte möchte er dann aber doch lieber auf Englisch reden.
Zwar lebt Kroft seit nunmehr sieben Jahren in Berlin, „aber durch meine Reisen war ich pro Jahr nur wenige Monate hier“. Durch Russland ist er gefahren, bis nach Sibirien, ohne Flugzeug. Auch in China und Ostafrika war er in den vergangenen Jahren unterwegs, zwei EPs hat er im Rahmen des „Journey“-Projekts veröffentlicht.
Die zweifelsohne wichtigste Reise hat Jim Kroft aber vor genau einem Jahr gemacht. Zusammen mit einem Freund ging es im Van von Berlin nach Serbien und von dort aus weiter nach Lesbos und Idomeni – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, die er selbst gar nicht „Krise“, sondern lieber „Herausforderung“ nennen will. Rund einen Monat machte er sich vor Ort ein Bild von der Lage und sah Dinge, von denen er heute sagt, dass sie sein Leben verändert hätten.
Kroft ist nicht nur Musiker, sondern auch Filmemacher und Fotograf. Seine Kamera hatte er immer dabei. „Wir wurden von vielen Menschen in ihre Zelte eingeladen. Gedreht haben wir aber natürlich nur mit ihrem Einverständnis.“ Die größeren Zweifel hatte er daran, dass er die Reise auch in Musik umsetzen könnte. „Es fühlte sich falsch an, auf so einen Trip eine Gitarre mitzunehmen. Mein Mitfahrer Basti hat mich dazu überredet, sie doch in unseren Van zu packen.“
Kaum sind sie auf Lesbos angekommen, sehen sie die ersten Boote, die in Richtung Küste trieben. Und von denen markerfüllende Schreie kamen, die Kroft niemals vergessen wird. „In der ersten Nacht war die Situation am schlimmsten“, erzählt er, auch heute noch sichtlich berührt. „Wir kamen an und waren sofort mittendrin. Du machst dir keine Gedanken darum, ob du als Beobachter gekommen bist. Es ist ein völlig menschliches Bedürfnis, helfen zu wollen.“
Während die Ärzte neben ihm vergeblich um das Leben eines kleinen Jungen kämpfen, hat Kroft ein kleines Mädchen im Arm. „Sie war etwa zehn oder elf Jahre alt und wurde auf einmal ohnmächtig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Ein Erlebnis, das Kroft aufgewühlt hat. „Als wir später wieder in unserem Van saßen, haben wir auch Tränen vergossen.“ Anschließend griff er doch zur Gitarre und verewigte die Kleine im Song „Sarah“.
Besonders angetan haben es ihm die freiwilligen Helfer, die am Strand von Lesbos versuchen, das Leben der verzweifelten Menschen zu retten. „Da war dieser spanische Feuerwehrmann, Paco. Grauer Bart, nur so groß“ – Kroft hebt seine Hand auf Brusthöhe – „aber in seinem hautengen Anzug watete er ins Wasser und griff entschlossen nach den Booten, um sie an Land zu ziehen. Der Wahnsinn.“
Überhaupt fällt auf, dass Jim Kroft trotz der schrecklichen Dinge, die er gesehen hat, nie hoffnungslos klingt. Das gilt für die Musik auf „Journeys #3“ genauso wie für seine Ausführungen im persönlichen Gespräch. „Ich habe so viele tolle Momente mit den Leuten erlebt: Lachen, Freundlichkeit, einfach Menschlichkeit.“
Trotzdem bekommt auch er den Hass der Internet-Trolle zu spüren, als er über die verschiedenen Social-Media-Kanäle von seiner Reise berichtet. „Besonders auf Twitter war es schlimm.“ Kroft versucht, mit den Leuten zu diskutieren und stellt Gegenfragen, die jedoch zumeist ins Leere laufen. „Durch die sozialen Medien sind wir leider weniger sensibel“, resümiert er nachdenklich.
Als er wieder in Berlin ist, geht das Projekt für Kroft weiter: „Ich habe direkt nach meiner Ankunft die Band zur Probe geholt und das Album ‚Journeys #3‘ innerhalb von wenigen Tagen aufgenommen.“ Zwischendrin hatte er auch noch eine Live-Schalte zu Sky News in seine Heimat Großbritannien, in der er am Morgen nach seiner Rückkehr über seine Reise berichten sollte. „Das war auch noch ein Video-Interview. Was sah ich fertig aus!“, erzählt er und muss selbst darüber lachen.
Die Abgrenzung zu den Berichterstattern der Medien betont er im Gespräch mehrfach. „Natürlich waren auch die großen TV-Stationen wie CNN oder ZDF auf Lesbos. Aber die sind alle über Nacht in ihre Hotels zurück. Unser Van war der einzige, der die ganze Zeit stehenblieb. Zum Teil haben sich die Journalisten dann bei uns erkundigt, was über Nacht passiert ist.“
Auf Kroft hatten die Erlebnisse einen solchen Eindruck gemacht, dass er noch ein Fundraising-Projekt ins Leben rief: Unter dem Namen „Boat For Sarah“ wollte er 15.000 Euro für die spanischen Einsatzkräfte aus Lesbos sammeln, am Ende sind es knapp 20.000 Euro geworden.
Das Geld für seine Reisen verdient Jim Kroft nicht mit der Musik, sondern als Filmemacher. Er nimmt dafür verschiedene Aufträge an, um über die Runden zu kommen. „Neulich wollte mich Borussia Dortmund für ein Projekt verpflichten. Das hat dann aber leider doch nicht geklappt. Schade, denn das hätte ich sehr gerne gemacht.“
In Berlin-Neukölln wohnt er in einer „Wohngemeinschaft“ – das Wort kommt ihm auf Deutsch problemlos über die Lippen. Seine beiden Mitbewohner: „Einer der besten Grafik-Designer Deutschlands und eine Barista, die gerade den Deutschen Meistertitel gewonnen hat.“ Nach Deutschland kam der gebürtige Schotte einst aus England. „Ich konnte mir London einfach nicht mehr leisten“, sagt er heute. „Und in Berlin gab es die Möglichkeit, jeden Abend zu spielen.“ Er ist geblieben, hat in Berlin Fuß gefasst, viele Freunde gefunden und ist voll des Lobes über seine neue Heimat Deutschland. „Gutes Essen, gutes Bier. Und die Gastfreundschaft ist unglaublich.“
Lange hält es ihn aber nie in seiner Wohngemeinschaft. Schon Ende 2016 brach er wieder auf, dieses Mal nach Amerika. Während der heißen Phase des Wahlkampfs reiste er drei Monate lang quer durch das Land. „Am Ende war es für mich kaum noch eine Überraschung, dass Donald Trump gewonnen hat.“ Denn Kroft traf viele Menschen in abgelegenen Städten, wo Fabriken längst geschlossen sind und die Arbeitslosigkeit hoch ist. „Die haben sich von Trump eben versprochen, dass er ihnen wieder Arbeit verschafft.“ Freundlich aufgenommen hätten sie ihn trotzdem. Und die rassistischen und sexistischen Ausbrüche ihres neues Präsidenten nähmen sie eben in Kauf, sagt Kroft und zuckt resignierend mit den Schultern. „Typen wie Trump versuchen, die Menschen zu spalten. Statt sich darauf zu konzentrieren, dass wir alle so viel teilen.“
Auch in den USA hatte der Künstler natürlich seine Kamera dabei. In Oakland machte er kurz nach der Wahl Aufnahmen einer Anti-Trump-Demo, als es für ihn richtig heikel wurde. „Da kam eine Gruppe Maskierter, die mich bedroht hat. Das war wirklich gefährlich und ich hatte richtig Angst.“ Es ging gut für ihn aus, aber eine traurige Erkenntnis blieb: Dass diese Gruppe Idioten das Anliegen der friedlichen Protestler kaputtmacht.
Zurück in Berlin ging es für Jim Kroft zunächst wieder einen Schritt zurück: Das Material aus Amerika wurde beiseitegelegt – es wird zu einer späteren Zeit Verwendung finden, da ist er sich sicher. Aber vorher soll der Film zu seinen Erlebnissen in Idomeni und Lesbos fertiggestellt werden. „Ich habe dabei gar nicht den Anspruch, objektiv zu sein. Natürlich ist alles, was ich dort zeige, meine Sicht auf die Dinge.“ Und doch tue er das vor allem für die Menschen, „die selbst eben nicht dorthin fahren und sich die Situation vor Ort angucken können.“ Zum Weltflüchtlingstag im Juni will er den Film fertig haben und auch im Internet kostenlos zur Verfügung stellen.
Einen ersten Kurzfilm gibt es bereits online zu sehen. Er zeigt den „Marsch der Hoffnung“ im März 2016, bei dem Tausende Flüchtlinge aus Idomeni in Richtung der mazedonischen Grenze aufbrachen.
Konzerte spielt Jim Kroft aktuell kaum, zu „Journeys #3“ gab es einige Auftritte mit Musik und Erzählungen. Dabei hat er schon vor sehr vielen Zuschauern gespielt: In Großbritannien einst als Support-Act von Joe Cocker, dann war er mit Sunrise Avenue und später mit Livingston auf Europa-Tournee.
Bleibt die Frage, was Jim Kroft über das eingangs erwähnte Zitat von Noel Gallagher denkt. Er schmunzelt zunächst und wird dann nachdenklich. „Musik ist natürlich häufig zur Unterhaltung da“, sagt er. „Aber einer von Noels größten Helden ist John Lennon, der mit ‚Working Class Hero‘ oder ‚Imagine‘ auch politische Songs gemacht hat.“ Allzu dogmatisch sehe er das nicht. „Noel hat mit dieser Einstellung immerhin Millionen CDs verkauft und vielen Leuten eine schöne Zeit beschert – auch mir.“ Allerdings: „Wenn mich später meine Urenkel fragen sollten, was ich in diesen politisch unruhigen Zeiten gemacht habe, will ich eben nicht mit ‚Alkohol und Heroin‘ antworten.“
Nach zwei Stunden schließt das Café und auch Jim Kroft muss wieder los. Er will seinen Film über die Flüchtlinge noch weiterschneiden, um ihn so bald wie möglich der Welt zeigen zu können. Den Schokokuchen hat er während des gesamten Gesprächs nicht angerührt. Er lässt ihn sich einpacken, bevor er mit dem Fahrrad in den stürmischen Berliner Abend davonrauscht. Im Gepäck natürlich auch die Karteikarten mit den Deutsch-Übungen. Denn seine nächste Reise, das hat Jim Kroft bereits beschlossen, wird ab September quer durch Deutschland gehen.
Weitere Informationen über Jim Kroft
Homepage
Facebook
Instagram
CD-Review „Jouneys #3“ auf bleistiftrocker.de
Fotos: Bastian Fischer und instagram.com/jimkroft