Das Festival Les Ardentes ist eines der größten in Belgien: Über 4 Tage spielten etwa 80 Bands auf mehreren Bühnen, rund 60.000 Zuschauern waren dabei. Wir waren am ersten Festival-Tag vor Ort.
Es ist 13 Uhr und ein noch recht dünner, aber stetiger Besucherstrom macht sich auf in Richtung Parc Astrid de Coronmeuse auf einer Insel vor dem Stadtkern von Lüttich. Der Donnerstag ist der erste von vier Tagen, an denen hier jeweils gut 12 Stunden am Stück Livemusik geboten wird. Entsprechend frisch und erwartungsvoll sehen die Menschen aus, die sich nun auf dem weitläufigen Gelände verteilen.
Heute werden nur zwei Bühnen bespielt, zumindest am Freitag und Samstag werden es noch zwei weitere sein. Aber auch so kommen die Besucher am Donnerstag in den Genuss von insgesamt 15 Acts. Kleines Manko: Ist die eine Band fertig, fängt auf der anderen Bühne sofort die nächste an – unmöglich, bei den großen Entfernungen rechtzeitig den Ort zu wechseln, um die Auftritte komplett verfolgen zu können. Schuld daran ist unter anderem die sehr lange Fressmeile, auf der die exotischsten Speisen angeboten werden.
Nach den ersten fünf Bands, aus denen vor allem School Is Cool mit ihrem frischen Indiepop und Shearwater mit ihrer sehnsüchtig Rockmusik herausstechen, folgt der erste große Regenguss. R&B-Sänger Maverick Sabre hat die undankbare Aufgabe, während des Schutts auf der großen Open-Air-Bühne zu spielen, als sich die meisten Festivalbesucher in die Halle verzogen oder irgendwo anders Unterschlupf gefunden haben. Aber seine musikalischen Sonnen-Beschwörungen fruchten und schon zum Hippie-Folk von Edward Sharpe & The Magnetic Zeros ist das schlechte Wetter kein Thema mehr.
Danach geht es Schlag auf Schlag mit den Stars des Abends. In der Halle eröffnen die vier Mädels von Warpaint, vor kurzem von den Red Hot Chili Peppers noch hochgelobt, den Reigen. Ihr verhuschtes Auftreten zieht die Fans vor der Bühne in ihren Bann, ihre psychedelische Musik erweist sich auf Dauer jedoch als ganz schön anstrengend und damit wohl zu anspruchsvoll für den sprunghaften Festivalbesucher.
Den zieht es schnell wieder zum Open-Air-Gelände, wo als nächstes die Ting Tings Gas geben. Beim Duo steht Sängerin Katie eindeutig im Vordergrund und nimmt auch schon mal ein Bad in der Menge, während Schlagzeuger Jules das musikalische Fundament liefert. Und natürlich dürfen die großen Hits der Ting Tings, „Shut Up And Let Me Go“ und „That’s Not My Name“, nicht fehlen.
Auf der anderen Bühne geht es direkt darauf mit einer echten Legende weiter: Patti Smith zieht ältere und jüngere Besucher des Les Ardentes wie magnetisch in die inzwischen sehr stickige Halle, in der sämtlich Rauchverbotsschilder einfach ignoriert werden. Eine gut aufgelegte Patti Smith – hippieesk wie eh und je mit Ansagen wie „We have to save the earth!“ – beginnt mit ihrem Klassiker „Walking Barefoot“ und überzeugt alle im Handumdrehen mit ihrer Bühnenpräsenz und ihrer einzigartig rauchigen Stimme. „Redondo Beach“ widmet sie Morrissey, der diesen Song einst für Live-Auftritte coverte und mit dem sie die Bühne heute leider nicht teilen kann. Schade, denn Patti Smith hätte sicherlich besser in die Open-Air-Atmosphäre gepasst als in die uncharmante Halle. Nach ein paar Songs von ihrem brandneuen Album „Banga“ folgt der unvermeidliche Klassiker: Bei „Because The Night“ wacht auch das Publikum in den hinteren Reihen auf und feiert die 65-jährige Punk-Ikone gebührend.
Den wohl schönsten Slot bekommen die White Lies, die um 22 Uhr auf die Open-Air-Bühne dürfen und mit ihren düsteren Rocksongs wie „Strangers“ oder „To Lose My Life“ in die untergehende Sonne des gut gefüllten Platzes spielen. In ihren Ansagen eher unterkühlt, brennen die drei Briten ein pompös-melodisches Feuerwehr ab, wie man es von ihren beiden Alben kennt. Die volle Stunde, die die White Lies laut Plan haben, nutzen sie jedoch nicht voll aus: Nach dem großartigen „Bigger Than Us“ verschwinden sie nach nur 45 Minuten von der Bühne und fahren schon per Shuttle davon, als die Menge noch nach einer Zugabe brüllt.
Doch das Highlight des ersten Tages steht da noch bevor: Bereits zur Öffnung der Tore um 13 Uhr hatten sich einige hartgesottene Morrissey-Fans in der ersten Reihe eingenistet, um über zehn Stunden später endlich ihrem Idol zujubeln zu können. Morrissey startet mit „Shoplifters Of The World Unite“ – zeitgleich mit einem neuen Regenschauer, der von den Fans auf dem Gelände dieses Mal ignoriert wird. Der 53-Jährige hat in seiner Band gleich mehrere Überraschungen parat: Da ist zum einen sein neuer Drummer Eric Gardner, der den ausgestiegenen Matt Walker heute zum ersten Mal ersetzt. Und zum anderen Gitarrist Boz Boorer, der den kompletten Gig als Frau verkleidet spielt und die Bühne teilweise sogar barfuß rockt. Das sind jedoch nur Randnotizen – wie immer, wenn Morrissey am Start ist.
Zwischen den Songs gibt es die gewohnt schnöselig-kurzsilbigen Ansagen („I dare you to be yourself!“) oder der Meister interessiert sich für die Aufschriften der Plakate und T-Shirts in der ersten Reihe, um sie dann lapidar zu kommentieren – immer garniert mit einer gehörigen Portion britischem Charme, die dem Weltenbummler noch immer geblieben ist. Neben seinen umjubelten Hits wie „You Have Killed Me“ oder „Everyday Is Like Sunday“ („Come, come, come, come, nuclear bomb! SOON!“) hat er heute natürlich wieder Smiths-Material im Gepäck. Bei „How Soon Is Now?“ recken sich die Hände zum Schlachtruf „I am human and I need to be loved“ in die Luft und zu „I Know It’s Over“ schmachten nicht nur die jetzt schon restlos begeisterten Morrissey-Lookalikes in der ersten Reihe.
Nicht fehlen darf auch die Vegetarier-Hymne „Meat Is Murder“. Allerdings hatte Morrissey dieses Mal keinen fleischlosen Tag erzwungen wie noch bei seinem letzten Belgien-Auftritt, als die Fressbuden mit Fleisch geschlossen bleiben mussten. Altbewährt ist hingegen die Tradition, dass Morrissey sich bei „Let Me Kiss You“ dramatisch das Hemd vom Leib reißt und in die Menge wirft.
Mit „Still Ill“ – einem weiteren Smiths-Song, der wieder in Morrisseys Setlist zurückgekehrt ist – beendet der große Mann aus Manchester sein Konzert. Auf den Klassiker „There Is A Light That It Never Goes Out“ müssen die Zuschauer heute verzichten, denn auch er gibt keine Zugabe. Während sich in der Halle Caravan Palace noch etwas länger austoben, ist Open Air um 1 Uhr nachts Schluss mit dem ersten Tag eines berauschenden Festivals.
(Im Original erschienen bei triggerfish.de am 10. Juli 2012.)