In der Ukraine tobt Krieg, das Land ist aber eines von 40, das in der Teilnehmerliste für den Eurovision Song Contest 2022 in Turin steht.
Der ukrainische Act Kalush Orchestra, der mit dem Song „Stefania“ nach Italien fahren soll, hat nun erklärt, weiterhin an einer Teilnahme festzuhalten.
Musiker wollen „als Augenzeugen dastehen“
In einem aktuellen Band-Statement, das in einer Pressemitteilung verschickt wurde, heißt es unter anderem:
„Ursprünglich war die Teilnahme am Eurovision Song Contest für uns ein Gesangswettbewerb, bei dem wir Europa unser Talent zeigen und unsere Identität als europäische Künstler bekunden wollten. Aber jetzt sind Europa und der Wettbewerb die größte Plattform für uns, auf der wir nicht nur über den Krieg sprechen können, sondern als Augenzeugen dastehen – als Menschen, die aus dem Beschuss gekommen sind und als Menschen, die nach dem Ende des Wettbewerbs dorthin zurückkehren werden. Für uns ist der ESC jetzt ein Sprachrohr, durch das wir dem Durchschnittseuropäer, der gerade Musik hört, vermitteln können, dass es die Künstler aus seiner oder ihrer Playlist vielleicht bald einfach nicht mehr gibt, weil Russland jeden Tag Bomben abwirft und Kugeln abfeuert, die auf alle Bürger der Ukraine zielen. Für uns wird es so sein, als würde jeder Ukrainer mit uns auf der Bühne in Turin auftreten, denn jeder Sieg ist jetzt extrem wichtig für unser Land!“
Heißt: Das Kalush Orchestra will unbedingt am 10. Mai in Turin auf der Bühne stehen, wenn es im ersten Halbfinale um den Einzug ins große Finale am 14. Mai geht.
Kalush Orchestra teilt Eindrücke aus dem Krieg
In ihrem Statement teilt die Band – die Ich-Form stammt hier von Frontmann Oleh Psiuk – weitere Eindrücke vom Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine:
„Der 24. Februar sollte der schlimmste Tag unseres Lebens sein, aber je länger der Krieg andauert, desto schrecklicher werden die Tage, da sie mit mehr Schmerz, Blut, Tod und Zerstörung gefüllt sind. Jeder neue Tag ist eine Geschichte, eine Geschichte der Freude, wenn wir die Stimme von Eltern und Freunden hören, und eine Geschichte des Schmerzes, wenn wir aus dem Fenster schauen oder die Nachrichten über Luftangriffe, den Einmarsch feindlicher Panzer und die Erschießung von Zivilisten, die für Brot anstehen, lesen.
Wir haben in den Schulbüchern über die schrecklichen Zeiten der Kriege und Völkermorde gelesen, die an der ukrainischen Nation begangen wurden, aber wir konnten uns nie vorstellen, dass uns das alles noch einmal passieren würde.
Im letzten Jahr hatten wir Konzerte in jeder regionalen Stadt der Ukraine und in den meisten Bezirkszentren. Ich erinnere mich an viele Augen, die vor der Bühne standen, und es ist beängstigend, sich vorzustellen, dass viele von ihnen für immer geschlossen sind. Es ist beängstigend, wenn deine Freundin während des Beschusses hilft, die Positionen zu stärken, und du nicht weißt, ob du ihre Stimme wieder hören wirst. Es ist beängstigend, kein Lächeln auf den Gesichtern der Jungs unserer Band zu sehen, weil jeder in einem anderen Gebiet ist und alles passieren kann. Es ist beängstigend, Nachrichten zu öffnen und zu lesen, dass dein Freund bei der Verteidigung von Kherson gestorben ist.
All das ist beängstigend, aber wenn man in den Geschichten oder Interviews darüber liest, ist es eine Sache, und wenn man selbst mittendrin ist, ist es eine ganz andere. Man denkt nicht an Angst, denn man ist überwältigt von der Liebe zu allen Menschen um einen herum, zur Muttersprache, zu den Straßen, den Gebäuden und dem Land. Deshalb haben die Ukrainer keine Angst, sie haben eine große Liebe zu ihrer Nation und ihrem Land.“
Für Alina Pash nachgerückt
Die Auswahl des Kalush Orchestra zum ukrainischen ESC-Act war nicht reibungslos abgelaufen: Eigentlich hatte Alina Pash den Vorentscheid „Vidbir“, der am 12. Februar 2022 ausgetragen wurde, gewonnen. Nach Unstimmigkeiten mit offiziellen Dokumenten zog sie ihre ESC-Teilnahme zurück. Am 22. Februar wurde verkündet, dass das Kalush Orchestra als Zweite von Vidbir für die Ukraine nachrücken würde. Zwei Tage später brach im Land Krieg aus und die Bandmitglieder zeigten sich in Kampfmontur auf Instagram.
Im vergangenen Jahr war wegen der Corona-Pandemie eingeführt worden, dass jedes Land vorab ein Back-Up-Video einreichen muss – für den Fall, dass der Act nicht auf der Bühne stehen kann. 2021 in Rotterdam kam das von Australien zum Einsatz, weil Montaigne nicht nach Europa reisen konnte. Auch in diesem Jahr wird es Back-Up-Videos geben – was die Chancen einer ESC-Teilnahme der Ukraine noch mal vergrößert.
Hier ist das offizielle Video von Kalush Orchestra und ihrem Song „Stefania“, das den Auftritt beim Vorentscheid zeigt:
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Foto: Promo