210 Bands an drei Tagen – das Reeperbahn Festival 2011 verlangt den Besuchern einiges ab. Vor allem Planungsgeschick, denn das Angebot muss schließlich zu einem individuellen Festivalprogramm zusammengestellt werden. Statt großer Namen setzen die Veranstalter dabei vor allem auf Geheimtipps.
Und in der schroffen Atmosphäre der Reeperbahn offenbaren sich dabei tatsächlich vielversprechende Newcomerbands den 17.500 Besuchern. Einige von ihnen stellen sich ebenso in Showcases den anwesenden Fachbesuchern vor. Die verhuschte Anna Aaron legt auf der Party der Schweizer (wo es dank Raclette sogar stilecht nach Schweizer Käse riecht) einen beeindruckenden Auftritt hin, gefolgt von den Wirbelwinden der Band 7 Dollar Taxi. Ruhiger geht es bei den Holländern zu, wo vor allem Singer/Songwriter Tim Knol und der Folksänger I Am Oak mit ihren Bands zu begeistern wissen. Bei den Kanadiern gefällt unter anderem Rae Spoon, eine zierliche, aber stimmgewaltige Songwriterin. Für die immerhin fast 2000 Fachbesucher gibt es außerdem eine Reihe von Diskussionsrunden und Workshops rund um die Musikbranche.
Das Herzstück des Festivals sind jedoch die Clubauftritte am Abend. So versammelt sich schon zu Beginn des ersten Abends eine große Fanschar in einer der Kultlocations Hamburgs, im Docks, um die Lokalhelden von Fotos abzufeiern. Die Hamburger sind erst kurz zuvor für die Raveonettes eingesprungen und liefern mit ihrem deutschen Indierock den Kickstart für drei Tage Party auf dem Kiez. Miss Li legen im Anschluss noch eine Schippe drauf und wirbeln mit allerlei Instrumenten und Apple-tauglichen Songs über die Bühne. Auch der Abschluss gehört an diesem Abend, der übrigens komplett ausverkauft ist, einer schwedischen Band: Friska Viljor. Die beiden Jungs machen gewohnt viel Spaß und überzeugen – ihr aktuelles Album „The Beginning Of The Beginning Of The End“ im Gepäck – vor allem in kompletter Bandbesetzung.
Am Freitag kommt zunächst nur langsam Partystimmung auf – St. Pauli hat gerade überraschend sein Heimspiel gegen Erzgebirge Aue verloren. Doch Honningbarna verpassen der Laune im Grünen Jäger einen Tritt in den Hintern. Die sechs jungen Männer aus dem norwegischen Kristiansand geben ordentlich Gas. Dass sie dabei in ihrer Heimatsprache singen, stört hier niemanden – die Energie zählt und davon haben Honningbarna reichlich. Im Grünspan schickt sich Selah Sue kurz darauf an, in die Fußstapfen von Amy Winehouse zu treten. Die Aussichten sind vielversprechend: Mit ihrem musikalischen Stilmix und ihrer blonden Nestfrisur hat sie die Zuhörer schnell auf ihrer Seite, es gibt zwischenzeitlich sogar einen Einlassstopp vor der Location, weil zu viele Menschen die junge Belgierin sehen wollen.
Nebenan im Indra ist es ebenfalls proppenvoll, als Twin Atlantic ihre energiegeladene Show starten. Die vier Schotten geben Gas und sind mächtig laut. Der Alternativ Rock mit dem schottischen Akzent bringt die Menge zum Tanzen, trotz der zwischendrin sehr harten Riffs in ihren Songs. Mit ihrer etwa 45-minütigen Show legen sie den Grundstein für Escapado, die direkt danach das Indra bespielen. Wermutstropfen: Es ist ihr vorletztes Konzert, die Band hat gerade verkündet, dass sie zunächst eine Pause einlegen will. „Dann schauen wir mal“, sagt Sänger Felix, was aber nicht danach klingt, dass Escapado bald wieder auf der Bühne stehen werden. Der Spaß ist ihrem Auftritt jedoch deutlich anzusehen und er überträgt sich auch auf das Publikum, das auch nach einer kleinen Eingewöhnungsphase zu der Musik mitgeht, die irgendwo zwischen Indie, Hardcoe und Screamo einzuordnen ist. Deutlich frischer im Geschäft als Escapado sind die poppig-verhuschten Jezabels, die nach einer kleinen Verzögerung (über die der Veranstalter jedoch brav und minutiös über Twitter informiert) das Übel&Gefährlich mit ihrem melodiösen Pop berauschen. Den perfekten Abschluss bilden die Rifles, die zu fortgeschrittener Stunde (es ist bereits nach 1 Uhr) das Docks mit ihrem tanzbaren Indierock beschallen und einen ereignisreichen zweiten Festivaltag beschließen.
Der Samstag bietet auf der Reeperbahn einmal mehr die Qual der Wahl. Die Band mit dem größten Potenzial spielt dabei wohl im Knust, etwas außerhalb der Reeperbahn: Airship aus dem musikalisch ruhmreichen Manchester. Die vier Jungs waren nicht nur bereits mit den Editors und Biffy Clyro auf Tour, sie haben sich dabei offensichtlich auch viel abgeschaut: Das Gespür für feinen, treibenden Indierock, mit dem sie es noch weit bringen dürften. Wie die meisten Bands haben sie an diesem Abend 45 Minuten Zeit und stellen dabei ihr gerade erschienenes Debütalbum „Stuck In This Ocean“ vor. Im nicht ganz vollen Knust gibt es dafür verdientermaßen viel Applaus.
Eng wird es kurz darauf in der Prinzenbar: Bereits bei Locas In Love hatte es einen Einlassstopp gegeben, bei My Heart Belongs To Cecilia Winter sieht es ähnlich aus. Die Schweizer Newcomer verzaubern mit mal verträumtem, mal krachendem Pop, der alle in ihren Bann zieht. Im Gegensatz zum Showcase erscheinen sie sogar in Kostümen: Sänger Thom hat sich in Federklamotten geschmissen, sich Gold ins Gesicht geschmiert und schießt zwischenzeitlich per Kanone Goldschnipsel ins Publikum. Und diese optische Extravaganz passt perfekt zur Musik von My Heart Belongs To Cecilia Winter, die beim Publikum sehr gut ankommen und demnächst sicherlich nicht mehr nur in der kleinen Prinzenbar auftreten werden.
Und so geht das Reeperbahn Festival 2011 dann auch langsam zu Ende. Wo auch immer die Besucher im Laufe der drei Tage unterwegs waren und egal, welche Bands sie gesehen haben: Alle wissen, dass viele der Acts bald durchstarten und in deutlich größeren Hallen spielen werden. Und dass sich Fans und Fachbesucher schon auf die siebte Auflage des Reeperbahn Festivals im Jahr 2012 freuen.
Fotos: Hannah Samland und Sonja Riegel
(Im Original erschienen bei triggerfish.de am 30. September 2011.)