Am Mittwoch war es soweit: Die Presse konnte sich erstmals ein eigenes Bild der Proben beim Eurovision Song Contest 2022 machen.
Die ersten 14 Acts des ersten Halbfinals standen in Turin für ihre zweite Einzelprobe auf der Bühne. Diese beinhaltete jeweils drei Durchläufe, die die Presse vor Ort im Pressezentrum sowie online per Stream zu sehen bekam. Auf YouTube wurden im Anschluss auf dem offiziellen ESC-Kanal jeweils 30-Sekunden-Clips hochgeladen.
Hier sind unsere Beobachtungen zu den 14 Acts, die am Mittwoch zu sehen waren.
Ronela Hajati (Albanien)
Die erste Proben-Übertragung im Online-Pressezentrum, die ersten technischen Probleme: Von Ronela Hajati gab es am Morgen im Stream nichts zu sehen. Dafür wurde am Abend ein Mitschnitt des ersten Takes nachgeliefert.
Darin war zu sehen, dass Ronela Hajati sichtbare Probleme mit ihrem Outfit hatte – ihr BH-Träger war während der Tanzperformance verrutscht. Auf der Bühne steht sie mit vier Tänzern und einer Tänzerin, die Show hat durchaus anzügliche Momente. Als wären die Hüftschwünge nicht schon spektakulär genug, versucht sich die Sängerin auch noch an einem Haarpropeller. Ein spektakulärer und womöglich auch diskussionswürdiger Opener für das erste Halbfinale wird es in jedem Fall.
Citi Zeni (Lettland)
Von Citi Zeni gab es das, was wohl jeder erwartet hatte: bunte Outfits und viel Wirbel auf der Bühne. Die anzüglichen Worte werden genau wie beim lettischen Vorentscheid nicht mitgesungen, was eine seltsame Pause entstehen lässt. Positiv fällt auf, dass jedes Bandmitglied seine Aufmerksamkeit von der Kamera bekommt – was dann auch zu einem Saxofon-Solo führt, das wohl dem legendären Epic Sax Guy aus Moldau Konkurrenz machen möchte.
Citi Zeni nutzen außerdem auch den Bühnenboden für einige Visuals. Zudem versuchen sie sich während der Performance an einer Art TikTok-Trick für einen Kameraschnitt, bei dem ein Bandmitglied eine Handfläche in die Kamera streckt und ein anderes seine nach dem Schnitt wegzieht – im hektischen Auftritt wirkt das allerdings kaum.
Monika Liu (Litauen)
Vor allem im Vergleich zu Citi Zeni passiert bei Monika Lius Bühnenshow dann doch eher wenig. Sie steht in ihrem eleganten engen Kleid, das sie bereits im Vorentscheid getragen hatte, in der Mitte der Bühne. Das meiste passiert hier über die Bewegungen ihrer Hüften und Schultern und dem intensiven Augenkontakt mit der Kamera, während ihr Gesang gewohnt stark ist.
Ein bisschen seltsam ist der Spiegelungseffekt, der zwischenzeitlich benutzt wird, um Monika Liu auf der Bühne zu klonen. Immerhin holt es die Bühnenshow etwas aus der Langeweile heraus. Zum Abschluss gibt es immerhin noch ein Küsschen der Sängerin für die Kamera.
Marius Bear (Schweiz)
Ganz in schwarz und ganz ruhig: So haben wir uns den Auftritt von Marius Bear vorgestellt und so ist es (fast) gekommen. Der Schweizer schaut oft direkt in die Kamera, passend zu seiner Ankündigung, in die Wohnzimmer der Menschen kommen zu wollen. Allerdings bewegt er sich mehr als gedacht, es gibt einige Moves, die eingebaut werden. Dafür gesorgt hat Sacha Jean-Baptiste, die im vergangenen Jahr bereits Gjon’s Tears zum Tänzer gemacht hatte.
Zwischendrin singt Marius Bear in einem gebrochenen Herzen, das auf den Boden (oder wahlweise auch auf sein Gesicht) projiziert wird – passend zur Songzeile „Hearts they get broken“. Am Ende nimmt er das Mikrofon dann auch noch in die Hand, man muss also tatsächlich keine Angst mehr haben, dass seine Darbietung zu statisch daherkommt.
LPS (Slowenien)
Die jüngste Band im Wettbewerb bleibt ihrem coolen, zurückgenommenen Stil treu. Es gibt Big-Band-Sound zu hören, obwohl ein Rockband-Line-up auf der Bühne zu sehen ist – in einem selbstironischen Moment scheint sich Keyboarder Ziga selbst darüber lustig zu machen.
Dafür besteht die Gefahr eines Drehwurms für das TV-Publikum, denn die Kamera fährt immer wieder um die Band herum. Die Tatsache, dass Drummer Gasper über der Diskokugel platziert wurde, sieht in der Totalen sehr schön aus. Im Laufe des Songs stellen sich die Bandmitglieder dann rund um die Kugel und es gibt endgültig eine schwindelerregende Kamerafahrt, um ein Bandmitglied nach dem anderen einzufangen. Spannend – spannender als der Song an sich.
Kalush Orchestra (Ukraine)
Haben wir hier schon die Gewinner des Eurovision Song Contest 2022 gesehen? Gut möglich. Denn ganz abgesehen von der politischen Situation, die der Ukraine in diesem Jahr durchaus Sympathiepunkte aus ganz Europa einbringen könnte, haben Kalush Orchestra eine starke Show für Turin auf die Beine gestellt. Die Mischung aus Folklore und Rap ist hervorragend inszeniert, jede Stimme und jedes Instrument bekommt ausreichend Platz eingeräumt.
Zwischenzeitlich wird von oben gefilmt und auf dem Bühnenboden sind Schatten zu sehen, die sich mit der Band bewegen. Auf geht alles in dem Moment, in dem Kalush Orchestra nach vorne laufen und zum Mitklatschen animieren. Ein sehr stimmiger, siegeswürdiger Auftritt.
Intelligent Music Project (Bulgarien)
LPS ist die jüngste Band auf der ESC-Bühne in diesem Jahr, Intelligent Music Project die älteste. Entsprechend abgebrüht rocken sie dann auch ihren Auftritt mit einem Song, der tatsächlich nicht zu den allerbesten des Jahrgangs gehört.
Er startet mit einem Splitscreen auf zwei der sechs Musiker, bevor Sänger Ronnie Romero mit einem Hut zu sehen ist, den er relativ schnell zur Seite wirft. Der Rest ist routinierte, breitbeinige Rockmusik. Es gibt Gitarrensoli, goldene Lichter und sehr viel Pyrotechnik.
S10 (Niederlande)
Ähnlich wie bei Marius Bear war auch bei S10 schwarz die dominierende Farbe. Die Kamera zieht bei ihr häufiger auf – für die endgültige Wirkung müssen wir darauf warten, dass Publikum in der Halle sein wird. Alles sieht sehr edel und melancholisch aus.
S10 selbst wirkte am Mittwoch aber noch ein bisschen gestresst, vor allem im ersten Take sei sie von Problemen mit ihrem Outfit abgelenkt worden, wie sie später zugab. Der stärkste Moment in ihrer Performance ist der, in dem sie von ihrem Podest tritt und nach vorne in Richtung des Publikums läuft. Song und Gesang sind bei ihr ohnehin über jeden Zweifel erhaben.
Zdob Si Zdub & Fratii Advahov (Moldau)
Nein, es steht leider wirklich kein Zug auf der Bühne – auch wenn Zdob Si Zdub und Fratii Advahov eine Zugfahrt von Chisinau nach Bukarest besingen. Sie versuchen, so gut es geht herumzuwirbeln, alles ist bunt und gut gelaunt. Besonders die Brüder Advahov scheinen auf der ESC-Stage die Zeit ihres Lebens zu haben – in sehr stimmigen schwarz-weißen Anzügen und mit breitem Grinsen im Gesicht.
Die Einladung „Join the train, be our guest“ wird mehrfach wiederholt, auch wenn dem unbedarften Zuschauer nicht klar wird, in welchen Zug er denn nun einsteigen soll. Die kleinen Choreografie-Momente sind witzig, manchmal wird aber auch nur rumgewackelt – ein bisschen mehr Dampf hätte alles vertragen können. Daran ändern auch das Ende mit einem Gitarrensolo auf dem bunten Bühnenboden sowie das Animieren des Publikums nichts.
Maro (Portugal)
Aus der portugiesischen Delegation gab es am Mittwoch eine schlechte Nachricht: Ein Mitglied wurde positiv auf Corona getestet und ist nun für sieben Tage in Isolation. Der Rest des Teams müsse nicht in Quarantäne, aber innerhalb und außerhalb der Arena nun immer FFP2-Masken tragen, hieß es dazu im offiziellen Presse-Newsletter. Die Probe von Maro fand gut zwei Stunden verspätet statt.
Dabei waren Maro und ihre Kolleginnen nur zu fünft statt zu sechst, der positive Test betrifft demnach eine der Sängerinnen. Nach dem ersten Take mit einem Delegationsmitglied, das ohne zu singen mit auf der Bühne stand, wurde umgebaut und damit auch der Kreis, in dem performt wird, etwas geöffnet. Im intimen Setting und sehr spärlich beleuchtet kamen die wundervollen Stimmen gut rüber. Hoffentlich bleiben alle gesund!
Mia Dimsic (Kroatien)
Die arme Mia Dimsic hatte bei ihrer zweiten Einzelprobe mit zahlreichen technischen Schwierigkeiten zu kämpfen: Beim ersten ihrer drei Durchläufe hatte sie deutliche Probleme mit ihren InEars, die sie dann auch entfernte und entsprechend gehandicapt weitersang. Doch auch danach lief nicht alles glatt und die Sängerin beklagte sich in den Pausen zwischen den Takes über den falsch zusammengesetzten Backtrack.
Optisch gibt es eine deutliche Veränderung zum kroatischen Vorentscheid: Mia Dimsic trägt nicht mehr schlichtes Schwarz, sondern ein rosa Kleid. Zudem gibt es zwei Tänzer und eine Tänzerin, die den Song „Guilty Pleasure“ darzustellen versuchen – an der ein oder anderen Stelle mag das etwas schwer zu verstehen sein. Obwohl die Sängerin selbst bereits erklärt hat, dass die Drei ihren Traum darstellen, interagiert sie auch mit ihnen. Übrigens beginnt sie den Song mit Gitarre, diese nimmt ihr einer der Tänzer jedoch recht schnell ab und dann bewegt sie sich mit Mikro in der Hand über die Bühne. Den Schluss singt Mia Dimsic komplett auf Kroatisch.
REDDI (Dänemark)
Bei REDDI aus Dänemark war durch ihren Auftritt beim heimischen Melodi Grand Prix schon vieles bekannt. Wichtigste Änderung: Wegen der ESC-Regeln darf die Band nun nicht mehr live spielen, außer dem Gesang ist alles Playback. Eine energiegeladene Show stellen die vier Musikerinnen trotzdem auf die Beine.
Wie gewohnt beginnt der Track mit Sängerin Siggy am Klavier, wobei einige Spiegelungen auf dem schwarzen Piano als besondere Shots zu sehen sind. Während das Instrument beim MGP noch am Rand stand, steht es jetzt hinter der Band, die nach dem Break dann einsetzt und losrockt. Es gibt auch Einstellungen von oben, auf dem Bühnenboden steht der Bandname, während drumherum die Farben immer wechseln. Ein besonders schöner Moment: An einer Stelle versammeln sich alle auf oder am Podest von Drummerin Ihan. Pyro wird es auch geben, die – zumindest in der Probe – allerdings mehr für den Knalleffekt als für eine sichtbare Feuershow gesorgt hat.
LUM!X & Pia Maria (Österreich)
LUM!X und Pia Maria stehen in einem Kreis aus Lichtern und sehen dabei etwas eingesperrt aus. In dieser relativ kleinen Fläche der Bühne interagieren die beiden dann auch – LUM!X hinter seinem DJ-Pult, Pia Maria singend im Halbkreis davor. Während der Track in der Studio-Version sofort mit Gesang loslegt, gehört beim ESC das erste Wort LUM!X, der die (bei der Probe noch nicht vorhandene) Menge zum Aufstehen animiert, bevor es regulär mit „Halo“ losgeht.
Beim Gesang passte am Mittwoch noch nicht alles, im Gegensatz zum Backingtrack klang Pia Maria etwas schwach, vor allem beim ersten Durchlauf. In den beiden anschließenden Runden wurde es immerhin etwas besser. Und dann wären da ja auch eine Stelle mit „lalala“ und ein Mitklatsch-Part, bei denen es nur um Stimmung und nicht um Stimme geht. Ordentlich Pyro gibt es dazu selbstverständlich auch. „Wir sind zu 90 Prozent da“, sagte LUM!X in der Pressekonferenz im Anschluss über die zweite Probe.
Amanda Georgiadi Tenfjord (Griechenland)
Die Eindrücke der Fotos aus der ersten Probenrunde haben nicht getäuscht: Im griechischen Bühnenbild des Eurovision Song Contest 2022 sind tatsächlich geschmolzene Stühle zu sehen. Amanda Georgiadi Tenfjord fängt auf einem (noch vollständigen) Stuhl sitzend an zu singen, am Anfang liegt ein Hall-Effekt ähnlich wie bei der Studioversion über ihrer Stimme. Ganz zu Beginn ist nicht mal ein Instrument zu hören – nur der Wasserfall auf der Bühne plätschert hörbar.
Später bewegt sich Amanda Georgiadi Tenfjord dann aber auch zwischen den Stuhl-Resten und der Gesang wird kraftvoller, während sich auch die Musik deutlich steigert. Auf den Leinwänden ist dabei kurz ein tanzendes Pärchen zu sehen. Mit diesem Auftritt könnte es Griechenland in diesem Jahr durchaus weit bringen.
Am Donnerstag steht der längste der Proben-Tage an. Zum zweiten Mal auf der Bühne (und damit auch für die Presse zu beobachten) sind dann Systur (Island), Subwoolfer (Norwegen), Rosa Linn (Armenien), The Rasmus (Finnland), Michael Ben David (Israel), Konstrakta (Serbien), Nadir Rustamli (Aserbaidschan), Circus Mircus (Georgien), Emma Muscat (Malta) und Achille Lauro (San Marino).
Am Nachmittag folgen die ersten (und damit nicht einsehbaren) Proben der Big Five: Alvan & Ahez (Frankreich), Mahmood & Blanco (Italien), Sam Ryder (Großbritannien), Chanel (Spanien) und Malik Harris (Deutschland).
Das erste Halbfinale des Eurovision Song Contest 2022 steigt am 10. Mai, das zweite Halbfinale zwei Tage später. Am 14. Mai geht es dann im großen Finale um den Sieg.
Alle Songs des diesjährigen ESC kann man hier anhören. Alle Künstler*innen des Jahrgangs haben wir hier aufgelistet.
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Foto: EBU / Andres Putting