INTERVIEW: Marius Bear

Am Dienstag wird es ernst für Marius Bear: Der Schweizer tritt im ersten Halbfinale des ESC 2022 an. Wir haben ihn per Zoom in Turin getroffen.

Marius Bear

Im Interview mit bleistiftrocker.de spricht Marius Bear unter anderem über seinen Song „Boys Do Cry“, die Proben in Turin und seine Pläne nach dem Eurovision Song Contest 2022.

 

bleistiftrocker.de: Du hast neulich in einer der Pressekonferenzen in Turin betont, dass dein Song „Boys Do Cry“ keine Ballade sei. Was unterscheidet ihn deiner Meinung nach davon?

Marius Bear: Eine Ballade hat meistens die Aufgabe, zu zeigen, wie verletzt ich mich fühle, wie traurig ich bin und was in mir abgeht. Es geht immer um den Künstler und was er den Leuten erzählen muss. Und „Boys Do Cry“ ist eher eine Aussage, ein Mood, der kreiert wird. Ich rede da immer von einem „Walt-Disney-Feeling“. Es kreiert eine Wärme und es geht nicht um mich.

Auf deinem Album „Boys Do Cry“ zeigst du viele Facetten von dir. Warum hast du dich entschieden, genau mit diesem ruhigen Song zum ESC zu gehen?

Das war natürlich ganz viel Überlegung und es braucht super viel Mut. Ich habe mich extra für diesen Song entschieden, weil ich dachte: Okay, das braucht am meisten Balls, dann gehen wir damit hin. Und ich habe die Entscheidung schon einige Male fast bereut. Ich habe in Madrid bei der Pre-Party die anderen Songs gehört oder Kommentare gelesen, die „boring“ oder sowas sagen. Ich weiß, dass ich es rausschreien und abfeiern könnte. Aber ich möchte das Gegenteil machen. Irgendwie reizt es mich und ich finde es schön, diesen Kontrapunkt zu fahren. So war mein Leben auch immer: Ich war in der Armee, dann bin ich Straßenmusiker geworden. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, aber unheimlich viel rumgereist und habe überall gewohnt. Und das hört man auch auf dem Album „Boys Do Cry“, es ist eine Achterbahnfahrt. Es geht von unüberlegten Festival-Songs bis zu tiefen Balladen. Und das bin halt einfach ich, es ist eine Hommage ans Leben.

Du liest tatsächlich Kommentare im Internet?

Ach, hör auf. Das sollte man nicht tun. Am Anfang war es super hart. Vor allem, wenn du mit einem Song rausgehst, der genau Verletzlichkeit zeigen soll. Man öffnet sich wirklich, man zieht seine Kleider aus und steht völlig nackt auf der Bühne. Social Media ist ja kein Ort, an dem Diskussionen geführt werden, sondern es ist ein Ort, an dem jeder seine Meinung reinwirft. Ich verstehe, dass der Song „Boys Do Cry“ bei einem gewissen ESC-Publikum sehr aneckt. Er ist ein sehr schweizerischer Song, weil man die Schönheit erst auf den zweiten Blick sieht. Er will nicht zeigen was er kann, er fährt nicht mit dem Lamborghini und der Rolex vor. Er ist selbstbewusst, schaut dich an und hört dir zu und erst nach ein paar Sekunden merkst du, dass eine Tiefe dahinter ist und ein Mensch, der etwas erlebt hat. Das ist bei einem Event wie dem ESC, der viel Wert auf Show-Off legt, natürlich ein hartes Pflaster. Aber wenn das Licht, der Sound, meine Performance und meine Mimik, all diese Feinheiten, zusammenkommen, dann wird er ganz groß.

An welcher Stelle im Leben braucht es die Aussage „Boys Do Cry“ denn besonders?

Auch wenn „Boy“ drin ist, bedient der Song keine Sexualität. Das war mir wichtig. Ich wollte das Thema Sexualität oder Gender nie aufmachen. Ich bin in einer Hippie-Familie ausgewachsen, wir haben lange in einem Camper gewohnt und sind durch Australien gezogen – das war für mich nie ein Thema, ich gehe da mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ran. Darum war es für mich wichtig, „Boys Do Cry“ auf ein breites Gefühl zu stützen. Man sieht es auch im Video: Die Großmutter fühlt mit und der kleine Junge fühlt mit. Und so ist auch mein Publikum. Wenn wir Live-Konzerte spielen, ist es ein Adele-Publikum, das durch die ganze Bandbreite geht und eine Emotion verbindet. Das feiere ich so an meiner Musik. Bei meinen Konzerten in der Schweiz sieht man alles von der Großmutter über den Harley-Davidson-Club bis hin zu paar jungen hübschen Hipster-Ladies und Kindern mit Familien. Da gibt es keine Diskussionen über Geschlecht oder Hautfarbe. Und dieses Thema möchte ich offen lassen, weil es die Emotion sein soll, die es verbindet.

Du hattest bereits deine zwei Einzelproben auf der ESC-Bühne in Turin. Bist du zufrieden damit, wie sie gelaufen sind?

Ich bin wirklich happy bis jetzt und fast ein bisschen unsicher, weil sie schon so gut gelaufen sind. Mit meiner Performance bin ich zufrieden, am Licht müssen wir noch ein bisschen arbeiten, weil diese Sonne im Hintergrund nicht funktioniert und nicht bewegt werden kann. Das ist jetzt einfach ein riesiges Metallgerüst, was da hinten steht.

Du hattest also etwas mit der Sonne geplant?

Da hätte mehr passieren sollen, auch bei anderen Acts. Das war der Aufhänger der Live-Show, dass sich die Sonne bewegen sollte. Und die ESC-Community redet jetzt von einem „rainbow of darkness“, das klingt richtig nach Star Wars. Da müssen wir ein paar Anpassungen machen, mit dem Licht sind wir noch nicht ganz da, wo wir sein wollen. Aber ich habe wirklich eine gute Creative Direktorin, Sacha Jean-Baptiste aus Schweden. Sie ist einer der kreativsten Menschen, die ich je getroffen habe. Sie versteht die Message von „Boys Do Cry“ und ich bin total überzeugt, dass es im Halbfinale am Dienstag richtig gut kommt.

Deinen Vorgänger Gjon’s Tears hat sie sogar zum Tanzen gebracht und auch du hast ja einige Moves in deinem Auftritt. Was hast du gesagt, als sie mit dieser Idee kam?

Ich bleibe stehen, rumlaufen ist nicht so meins. Aber sie hat mir wirklich geholfen, natürliche Bewegungen aus mir rauszuholen, die zum Song passen und die ich sowieso machen würde. Sie hat das noch verbessert und es zurechtgerückt. Es ist unheimlich spannend und ich merke, dass ich es gerne mache. So tanzen wie Luca Hänni könnte ich nicht, ich würde nach einer halben Minute schnaufen wie ein Pferd und könnte nicht mehr singen. Aber es ist spannend und ich wachse daran.

Du hattest in deiner zweiten Probe viel Eyeliner drauf und danach sogar Probleme, ihn abzukriegen. Hat das mittlerweile geklappt?

Heute Morgen musste ich noch mal Olivenöl ins Gesicht schmieren, aber jetzt ist er weg.

Soll das Make-up denn so bleiben für den Auftritt im Halbfinale?

Nein. Manchmal kriege ich meine Augen nicht auf, sie könnten jedenfalls noch ein bisschen offener sein. Und weil wir bei „Boys Do Cry“ auf die Finessen achten, auf die Mimik, auf die Augen und das Storytelling, ging es darum, irgendeine Lösung zu finden, die Augen mit Make-up zu verstärken. Aber so, dass es nicht geschminkt aussieht. Und dann sind wir zur Make-up-Artist gegangen, einer superlieben Italiener-Mama, die mich aber à la Nineties geschminkt hat. Wir haben probiert, es mit einem Dolmetscher zu erklären und am Schluss sah ich aus wie eine Dragqueen. Aber es war spannend. Irgendwie fand ich das cool, aber wenn ich das mache, gehen wir wieder ins Thema Sexualität. Und das möchte ich nicht. Ich möchte es bei dem Feeling belassen. Und darum finden wir jetzt irgendeinen Trick, die Augen zu betonen, vielleicht einen leichten Eyeliner.

Du hast im Vorfeld gesagt, dass du bei deinen Konzerten auch gerne mal barfuß auf der Bühne stehst. Das wird beim ESC jetzt aber nicht so sein, oder?

Nein, ich habe supercoole Plateauschuhe an, mit denen bin ich riesig. Barfuß hätte einfach mit dem ganzen Outfit nicht gepasst. Ich liebe es, barfuß zu spielen. Der Grund dafür ist, dass man den Bass dann durch das Kitzeln in den Zehen spürt.

Ist das ESC-Erlebnis denn bisher so, wie du es dir vorgestellt hast?

Ich hatte mir natürlich schon ein bisschen mehr Gaudi erhofft. Aber es ist ja alles noch gar nicht richtig losgegangen. Wir dürfen ja nicht zu sehr in die Crowd rein, weil die Gefahr besteht, dass man dann nicht auftreten kann wegen Corona. Wir werden alle 72 Stunden getestet und wenn du als Künstler positiv bist, dann bist du einfach raus. Und das würde mich hart anpissen.

Was ist bei dir für die Zeit nach dem ESC geplant?

Wir spielen im Sommer Festivals in der Schweiz und im Oktober eine Clubtour in Deutschland. Aber erst mal mache ich eine Woche Ferien in London und gehe zu einigen Kollegen von mir, um irgendwo auf dem Land Songs zu schreiben.

Die Antworten von Marius Bear auf unsere drei Standard-Fragen gibt es hier.

 

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Foto: Sonja Riegel / bleistiftrocker.de

 

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